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24.09.2013

Will Hall: „Genesung ist möglich!“

Genesung von psychischer Erkrankung ist möglich, jedoch nicht unbedingt mit herkömmlichen Methoden zu erreichen - das ist die Quintessenz des Vortrags von Will Hall, Führungsperson in der amerikanischen Selbsthilfebewegung und ein international anerkannter Botschafter für die Rechte psychisch beeinträchtigter Menschen. Er war am 11. und 12. September 2013 auf Einladung der Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung und des Vereins Achterbahn zu Gast in Graz.

Will Hall, der vor vielen Jahren die Diagnose „Schizophrenie“ bekam, gilt als Verfechter neuer Therapieansätze und plädiert dafür, den psychisch kranken Menschen anstatt zu be-handeln, mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen.

Nach zahlreichen negativen Erfahrungen mit schulmedizinischen Methoden lernt Will Hall, die Symptome seiner Erkrankung neu zu bewerten und in sein Leben zu integrieren. Hall führt seit Jahren trotz Stimmenhören und Selbstmordgedanken ein erfülltes Leben. Er arbeitet in den USA als Psychotherapeut (Process Work Therapy) und reist für Vorträge und Workshops um den ganzen Erdball.





Abb. 1:
Siegfried Suppan (Behindertenanwalt Steiermark)
, Will Hall, Kurt Senekovic (Verein Achterbahn)
Foto: steiermark.at/Jammernegg

Trialog mit gleichberechtigten Partnern


Bei seinem Vortrag in Graz plädiert Hall für den Trialog, bei dem Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, Angehörige und Experten gleichberechtigt miteinander agieren, mit dem Ziel, das bestehende Gesundheitssystem nachhaltig zu verbessern. Den Fokus legt Hall als Betroffener erwartungsgemäß auf das Krankheitsbild der Schizophrenie und alternative Therapiemöglichkeiten, die sich, so zeigt sich im Laufe des Abends, auch auf andere psychische Erkrankungsformen übertragen lassen.

Stigmatisierung entgegenwirken

Unermüdlich setzt sich Hall in Vorträgen, Workshops, Zeitungsartikeln und Radiosendungen für die Entstigmatisierung der Erkrankung Schizophrenie ein, denn „Schizophrene“ würden in der Bevölkerung nach wie vor als unberechenbar und gemeingefährlich sowie unheilbar gelten. Dabei zeigen Studien deutlich, dass Menschen, die an dieser Erkrankung leiden, prozentuell gesehen nicht gewalttätiger seien als die übrige Bevölkerung und, dass Genesung sehr wohl möglich sei, berichtet Hall.

Genesungsprozess als individueller Weg

Will Hall selbst musste, wie er meint, von zwei Dingen geheilt werden: Von seiner Psychose und der Behandlung durch Spezialisten. Hall hat, nach einigen traumatischen Erlebnissen in stationären Einrichtungen und mit medikamentösen Behandlungen, einen Weg zur Genesung gefunden, jenseits von Psychiatrieaufenthalt und Psychopharmaka. Jeder müsse aber, so Hall, auf ganz individuelle Weise zur Heilung gelangen, für manche bedeutet das auch stationärer Aufenthalt und die Einnahme von Psychopharmaka. Aufgrund seiner Erfahrungen plädiert er allerdings dafür, diesen gängigen, alternative Methoden vorzuziehen – in seinem Fall sind das Ernährungsumstellung, Vermeiden von Suchtmitteln, das regelmäßige Praktizieren von Yoga und Meditation – und das eine oder andere auszuprobieren, sich Zeit damit zu lassen. Dies benötigt allerdings Geduld und Durchhaltevermögen - Tugenden, über die Betroffene in akuten psychischen Krisen aufgrund ihres großen Leidensdrucks meist nicht verfügen. Hall selbst war jedenfalls in einem jahrelangen Teufelskreis aus Angst, Depression, Stimmenhören sowie Selbstmordgedanken und -versuchen gefangen, aus dem er sich in einem langen Prozess langsam und mühevoll herausarbeitete. Wie viel Kraft er dafür aufzuwenden hatte, lässt sich nur erahnen.

Aufbruch in eine neue Ära der Therapie

Zwei innovative Projekte, die Hall kurz vorstellt, weisen in eine neue Ära der Therapie von Schizophrenie: Soteria und der „Offene Dialog“ belegen, dass Genesung möglich ist.

Bei beiden Projekten steht die trialogische Zusammenarbeit im Mittelpunkt. Es werden keine Diagnose gestellt, keine Ursachen erforscht, sondern es wird untersucht, was den Betroffenen aber auch den Angehörigen helfen könnte. Im Rahmen von Soteria, das im Zuge der Antipsychiatrie-Bewegung seit den 1960er-Jahren entwickelt wurde und seinen Ausgang in Kalifornien fand, wird mit den Klienten außerhalb ihrer Familien gearbeitet, in wohnlichen Einrichtung und mit offener Stationsführung. Beim „Offenen Dialog“, in den 1980er-Jahren von einer Gruppe progressiver Psychologen und Psychiater in Finnland eingeführt, arbeiten Experten Vorort, also im unmittelbaren Lebensumfeld psychotischer Menschen. Medikamente werden bei beiden Projekten nicht sofort verordnet, außer bei Schlafstörungen. Das funktioniere aber nur mit einer hohen Toleranz gegenüber Menschen in psychotischen Phasen, so Hall.

Brücken bauen

Trotz seiner kritischen Haltung weist Will Hall immer wieder darauf hin, dass Schulmedizin oder Psychiater für ihn keine Feindbilder seien, sondern dass es vielmehr ein Prinzip seiner Arbeit sei, Brücken zu bauen und zusammenzuarbeiten, mit dem Ziel, langfristig bessere Therapiemöglichkeiten für psychisch beeinträchtigte Menschen zu schaffen und diesen einen unnötig langen Leidensweg zu ersparen. Dafür sei es aber unumgänglich, die heutige Behandlungspraxis der Schulmedizin zu hinterfragen und die Überzeugung zu überwinden, dass der Einsatz von Medikamenten  d a s  Mittel der Wahl ist. Hierzulande hat in Fachkreisen ein Umdenken in diese Richtung eingesetzt. Vieles wird sich ändern müssen. Die politisch Verantwortlichen sind aufgerufen, mit entsprechenden Maßnahmen und Förderungen den Weg dafür zu ebnen.

Verfasserin: Michaela Wambacher, Redaktion Achterbahn



LINKS:
www.willhall.net
www.madnessradio.net

Näheres über Soteria
Näheres über „Offener Dialog“






Abb. 2: Blick in den gut gefüllten Wartingersaal
Foto: steiermark.at/Jammernegg


Buchtipps:

Luc Ciompi, Holger Hoffmann, Michel Broccard  (Hrsg.)
Wie wirkt Soteria?
Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch durchleuchtet
eBook (PDF) 2011; Carl-Auer-Verlag
€ 18,00; ISBN 978-3-89670-802-1


Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.)
Statt Psychiatrie 2
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
1. Auflage 2007
€ 24.90; ISBN 978-3-925931-38-3

Jürgen Bombosch, Hartwig Hansen, Jürgen Blume
Trialog praktisch
Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie
Paranus Verlag
2. Auflage. (3. September 2007)
€ 16,80; ISBN 978-3926200570