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AKTUELLES

07.03.2022

Gewalterfahrungen: Eine Überlebende berichtet

Zum internationalen Frauentag am 8. März 2022 erzählt Louisa* ihre Geschichte. Sie spricht in ihrem Text offen über ihre Gewalterfahrungen und möchte damit betroffenen Frauen Mut machen, über ihre persönlichen Erfahrungen zu reden.


Jede 5. Frau ist zumindest einmal im Leben physischer und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Sogar jede 3. wird im Laufe ihres Lebens sexuell belästigt und jede 7. Frau ist von Stalking betroffen. Die Täter stammen zu über 90 Prozent aus dem familiären oder näheren sozialen Umfeld. (Quelle: Autonome Österreichische Frauenhäuser) Auch in den Zeiten des Lockdowns im Zuge der Covid-19-Pandemie hat sich die Situation hinsichtlich häuslicher Gewalt zugespitzt. 8 von 10 Betroffene von Gewalterfahrungen leiden unter schweren Traumata, die nicht nur einen hohen Leidensdruck mit sich bringen, sondern auch über den „privaten Raum“ hinausgehen, also beispielsweise die Leistungsfähigkeit im Berufsleben maßgeblich beeinträchtigen. (Weitere Informationen >>HIER)
Für Betroffene ist die Enttabuisierung von Gewalterfahrungen, die vor allem die Abkehr von der Opfer-Täter-Umkehr beinhaltet, sowie der niederschwellige, unkomplizierte Zugang zu Unterstützungsangeboten essenziell.

Louisa* ist Überlebende eines Gewaltverbrechens und hat sich – anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März – dazu bereit erklärt, ihre Geschichte mit uns zu teilen. Damit möchte sie Mut machen, über Gewalterfahrungen zu sprechen, denn leider reden Betroffene häufig nicht oder erst sehr spät über ihre Erfahrungen, während sie die Schuld bei sich selbst suchen.
Im Anschluss an den Text befinden sich Kontaktdaten von Anlaufstellen in der Steiermark, die Frauen in Notsituationen unterstützen und auffangen.

 

Liebe Frauen da draußen!
Wir haben viel für unsere Rechte gekämpft, für die wir mit Stolz einstehen können. Durch uns sind sehr wichtige Netzwerke entstanden, die nicht mehr wegzudenken sind, woran uns der internationale Frauentag erinnern soll.
Auch ich selbst habe Gewalt erfahren und möchte mit euch einen kleinen Ausschnitt meiner – zum Glück überlebten – Erfahrung teilen:


Es war vor sehr vielen Jahren. Ein Valentinstag, der bestimmt für sehr viele ein wunderschöner Tag ist.

Für mich begann der Tag wie jeder andere - zumindest fast. Ich befand mich in der Trennungsphase von meinem damaligen Mann. Wir schliefen bereits in getrennten Betten. Für mich war diese Beziehung schon länger untragbar: Er kontrollierte mich, sperrte mich ein, wenn er wegmusste, er versteckte meine Autoschlüssel. Es war mir nicht mehr möglich, sein Verhalten einzuschätzen. Ich vermute, dass er sogar mein Handy kontrollierte. Solche Aktionen kamen von ihm völlig unvorhergesehen.

Obwohl ich ihm unmissverständlich erklärt hatte, dass ich mich von ihm trennen werde, weckte er mich an besagtem Tag um ca. 03:00 Uhr Früh auf und erklärte, dass er mich am kommenden Wochenende zu einem Thermenbesuch einladen möchte. Um diese Zeit habe ich darauf nicht wirklich reagiert. Er musste später ohnehin zur Arbeit fahren.
Es war für mich mehr als seltsam und ich sah keinen Grund, auf so eine Einladung überhaupt noch einzugehen. Ich hatte an diesem Tag frei und konnte nicht mehr sehr lange schlafen. Ich machte in der Früh wie an allen anderen Tagen Ordnung im Haus und fuhr, obwohl ich frei hatte, mit meinem Auto in die Firma.

Die Firma war eigentlich der einzige Ort, an dem ich mich noch zuhause fühlte. Mein damaliger Chef und auch meine Kolleginnen wussten über meine Situation sehr wenig, weil ich nicht viel erzählte und meine Angst immer sehr gut überspielte. Als ich in der Firma war, kam mir mein Chef entgegen und sagte, dass mein Mann angerufen habe und ausrichten ließ, dass ich Kaffee einkaufen sollte.

Es war für mich seltsam und ich war wütend, weil ich wusste, dass wir noch genug Kaffee zuhause hatten. Und woher wusste er, dass ich überhaupt da bin?
Zuerst dachte ich mir, ob ich zurückrufen sollte, dann ließ ich es bleiben und nahm die Situation noch als ungefährlich an. Mir war es damals noch nicht bewusst, dass mich der Mann vom letzten Netzwerk, der Firma, in der ich arbeitete, abtrennen wollte.
Ich ging noch für ein paar Minuten ins Büro und studierte den Dienstplan. Im gleichen Moment klopfte es heftig an der Tür, wonach diese aufgerissen wurde.
Der Mann stand wütend in der Tür und schrie mich an, was ich da schon wieder machen würde. Auch in diesem Moment war mir noch immer nicht klar, wie bedrohlich meine Situation bereits war. Ich antwortete, dass ich mir nur den Dienstplan angesehen habe und fragte ihn, was er hier eigentlich wollte.

Er verabschiedete sich, wie so oft, mit den Worten: „Verschwinde hier, wie willst du pünktlich zuhause sein, wenn du hier nur herumhängst?!“
Mein Chef kam zur Stelle und fragte ihn, was das hier eigentlich sollte. Mein Mann wiederholte: „verschwinde hier endlich“ und trieb mich aus dem Büro. Er verließ das Gebäude mit den Worten: „Ihr werdet schon noch sehen was ihr davon habt - ihr werdet euch noch wundern!“

Mein Chef fragte mich, ob ich da wirklich mitgehen will. Ich antwortete, dass ich mit meinem eigenen Auto da sei und mich im Notfall bei ihm melden würde und sie sich keine Sorgen machen müssten. Ich war mir damals noch recht sicher, weil ich ihn schon mehrmals so erlebt hatte. Ich kannte diesen Ablauf schon zu gut. Er hatte nicht auf mich gewartet, stieg in sein Auto ein und fuhr nachhause. Anscheinend wusste er, dass ich ganz sicher nachhause komme, weil ich sonst niemanden hatte.
Als ich in mein Auto stieg, war mir noch nicht klar, dass ich hiermit mein letztes sicheres Netzwerk verließ. Auf einer Seite hatte ich Angst, auf der anderen Seite wusste ich, dass ich nur funktionieren muss, dann kann mir nichts passieren.

Ich erinnerte mich, dass genau an diesem Tag vor 11 Jahren und 11 Tagen meine geliebte Schwester mit ihrem entzückenden Hund und meiner Großmutter durch einen Autoraser tödlich verunglückt waren und nahm mir vor, zu Hause eine Kerze für sie anzuzünden. Wenn ich zu Hause war, würde sich auch mein Mann beruhigen. Mit diesem Gedanken fuhr ich nach Hause.
Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich gut zu Hause angekommen und aus dem Auto gestiegen bin, danach habe ich keine Erinnerung mehr. Die kommenden Wochen habe ich im Krankenhaus verbracht. Erinnern kann ich mich daran jedoch nicht mehr. Eine sehr lange Zeit nach diesem Vorfall wurde mir erst klar, dass ich das Ziel eines Gewaltverbrechens geworden war. Die Kriminalpolizei teilte mir mit, dass mein Angreifer, mein noch-Ehemann, in Gewahrsam genommen worden war.

Nun bin ich wieder zurück im Leben. Ich bin davon überzeugt, dass ich erlebt habe, was auch einige andere Frauen erleben mussten, daher bin ich mir sicher, dass diese meine Geschichte nachempfinden können. Es ist mir bewusst geworden, wie wichtig soziale Netzwerke – allem voran in Notsituationen – sind.
Im Verein Achterbahn durfte ich sehr starke Persönlichkeiten kennenlernen. Genau das gibt mir auch selbst sehr viel Kraft, zu sehen, wie Menschen hier ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Expertise nutzen und an andere weitergeben.
Immer wieder beobachte ich, dass diese Menschen, die selbst schon einiges durchlebt haben, mir dadurch mit sehr viel Empathie und Verständnis begegnen.

Wir, die Gewalt erlebt und überlebt haben, können mit unseren Erfahrungen anderen Mut machen.
Liebe starke Frauen da draußen, wir lassen uns am Weltfrauentag hochleben!

*Anonymisiert, Name ist der Redaktion bekannt

Diese und weitere Anlaufstellen für Frauen in Notsituationen können auch >>HIER eingesehen werden.

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