Sarah* (Name ist der Achterbahn bekannt) ist Suchttherapeutin. Und sie hat persönliche Erfahrung mit Abhängigkeit und psychischer Erkrankung. In diesem Beitrag erzählt sie aus ihrem Leben, über den Umgang mit Krisen und ihrer Doppelposition als persönlich erfahrene Professionistin
Ich bin 57 Jahre alt, geboren im sächsischen Plauen zu der Zeit, als es die DDR noch gab. Meine Mutter war alleinerziehend, von meinem Vater wusste ich nur, dass sie ihn kurz nach meiner Geburt rausgeschmissen hatte, weil er so viel trank. Es gab in meinem Leben noch meine Oma, eine sehr wichtige und starke Bezugsperson, die sich aber nicht gut mit meiner Mutter vertrug. Die beiden schafften es tatsächlich, 10 Jahre nicht miteinander zu reden, obwohl sie Tür an Tür wohnten und ich zwischen beiden hin- und herpendelte. Aber es gab wenigstens keine Konkurrenz wegen mir, ich war eher die Vermittlungsperson: Wenn es etwas zu bereden gab, sollte ich der anderen „etwas ausrichten“.
Mit meiner Mutter wurde es für mich problematisch, als ich in die Pubertät kam und mich ablösen wollte. Sie klammerte sich an Menschen fest, versuchte Abhängigkeiten zu schaffen, um ihre eigene Abhängigkeit von anderen zu rechtfertigen. Mitunter habe ich sie gehasst und hatte deswegen gleichzeitig Schuldgefühle.
Etwa zur gleichen Zeit, also mit 12, wurde mein Leben schwierig. Ich spürte meine sozialen Defizite plötzlich ganz deutlich, Ängste traten auf, Selbsthass. Meine Familie – also Mutter, Oma, die Brüder meiner Mutter – hatten mir jahrelang vermittelt, was für ein merkwürdiges, dummes Kind ich sei. Dabei hatte ich in dem Alter schon mehr Bücher gelesen als die alle zusammen.
Aber als Kind verinnerlichst du das. Und dann kam der Alkohol in mein Leben. Schon mit 13 wurde ich deshalb auffällig, meine Mutter rannte zu meinem Lehrer, damit der mit mir reden sollte. Der war ein wirklich guter Mensch und für viele meiner Mitschüler ein Vaterersatz. Er hat mir damals aber nicht helfen können, zumindest, was den Alkohol angeht. Im Nachhinein erkannte ich, wie sehr es mir doch geholfen hat, dass er an mich geglaubt hat und meine Stärken förderte. Ich schloss die 10. Klasse mit „sehr gut“ ab und begann eine Lehre bei der Bahn. Zu der Zeit soffen wir Jugendlichen natürlich alle, gingen jedes Wochenende mehrmals weg und tranken viel. Die Lehre habe ich mit Bravour gemacht, und kurz danach wurde ich von meinem Chef zum Weiterbildung als Fahrdienstleiterin geschickt - eine der Jüngsten und auch noch als Frau, das war schon was, aber in der DDR halt machbar.
Mit Anfang 20 realisierte ich, dass ich zu viel trank. Ich habe einige Jahre das Spiel aller Alkoholiker mit mir gespielt – mich selbst zu betrügen. ich konnte sehr lange meine Fassade aufrechterhalten, mein Umfeld hat nicht viel gemerkt. Doch es wurde schwieriger. Die Angst wuchs, die bittere Realität holte mich langsam ein, und eines Tages musste ich mir verzweifelt eingestehen, dass ich nicht in Maßen trinken kann. Dass ich Alkoholikerin bin.
Mir wurde auch klar, dass ich mir selber nicht helfen kann. Ich habe lange Zeit versucht, wenig zu trinken, nur ein Glas, nur ein halbes,...
Mit meinem Willen schaffte ich das jedenfalls nicht. In meiner Not betete ich. Irgendwo war da noch ein Rest Glauben in mir. Ja, das hat mir auf den Weg geholfen. Ich sage mal nicht Gott dazu, sondern „Höhere Macht“, ich bin nicht so religiös.
Und plötzlich bekam ich Kraft von irgendwoher, den ersten alkoholfreien Abend zu schaffen. Das war am 10. Juni 1991, ich war 26 Jahre alt. Einen Tag später stand ich bei der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker vor der Tür. Ich wusste schon länger, dass es die gab - das war meine Rettung. Ich gehe da heute noch hin. Nicht nur, um anderen zu helfen, auch für mich. Alkoholismus ist eine lebenslange Krankheit, ich werde nie sicher sein, aber wenn ich ehrlich zu mir und zu anderen bin, auf meine Höhere Macht vertraue und regelmäßig in mein Meeting gehe, kann ich ein normales Leben führen - nur halt ohne Alkohol.
Ich habe dann mein Abitur nachgeholt und Soziale Arbeit studiert. Nach zwei Jahren Jugendarbeit bekam ich eine Stelle in der Suchtberatung. Ich war skeptisch, aber dort arbeiteten schon mehrere trockene Alkoholiker - und das auch ziemlich professionell. Ich musste berufsbegleitend eine Zusatzausbildung zur Suchttherapeutin machen. Dazu gehörten auch viele Stunden Selbsterfahrung in der Gruppe, wo ich merkte, dass bei mir noch einiges im Argen lag, obwohl ich schon etwa 15 Jahre trocken war.
Ich hatte mein Leben größtenteils nur im Äußerlichen aufgeräumt, aber nicht mein Inneres. Also begann ich eine Therapie. Ich hatte damals riesiges Glück, der Psychologe war gerade neu in der Stadt und ich kam gleich bei ihm unter. Ansonsten: Wartezeit mindestens ein Jahr.
Der Psychologe machte einige Tests mit mir und präsentierte mir das Ergebnis: Borderline – Persönlichkeitsstörung.
Allerdings habe das 12 – Schritte – Programm der AA bei mir schon viel Vorarbeit geleistet, sagte er. Ich machte ein Jahr ambulante Therapie bei ihm, und habe dem viel zu verdanken. Danach konnte ich mich selbst endlich liebevoll ansehen und reflektieren. Viele meiner Gefühlszustände konnte ich jetzt einordnen und damit besser umgehen - sogar viel Gutes konnte ich aus meiner Erkrankung ziehen: Borderliner sind sehr kreativ.
Jetzt lebe ich seit fast 15 Jahren in Österreich und mein Leben ist angenehm, keineswegs langweilig, aber viel ruhiger als früher. Ich selbst bin beständiger, stabiler geworden, habe richtig gute Problemlösefähigkeiten.
Resümee: Ich habe beide Erkrankungen annehmen und therapieren können, indem ich mir Hilfe suchte und nicht alles alleine schaffen wollte. Schwäche zugeben und Hilfe annehmen – das ist mir nicht leicht gefallen. Später hatte ich nach einer Trennung noch einmal eine akute Krise, da habe ich mir gleich Hilfe bei einer Therapeutin gesucht.
Das Gute in Deutschland ist, dass die Psychotherapien dort kostenlos sind - im Gegensatz zu Österreich. Aber die Wartezeiten waren halt immens! In Österreich ist die psychosoziale Versorgung noch sehr ausbaufähig, obwohl es sicher viele engagierte Angestellte gibt. Hier muss von der Politik noch so einiges kommen.
In meiner beruflichen Branche rede ich schon über meine Alkoholkrankheit - da habe ich auch viel positive Resonanz erlebt. Aber über meine Borderline-Störung spreche ich kaum. Nur zwei Leute wissen das von mir und die sind möglicherweise selber betroffen. Ich habe zu viel Angst, in einer Schublade zu landen.
Ich komme jetzt in meinem Leben und meinem Beruf wirklich gut zurecht, wenn ich gut auf mich achte und eine gewisse Psychohygiene betreibe. Auch akute, von außen kommende Krisen habe ich bisher gemeistert. Heute weiß ich: Im Notfall würde ich mir schon irgendwie Hilfe organisieren.