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AKTUELLES

06.12.2011

"Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Zukunft weniger Depressive geben wird, ist in unserer Gesellschaft nicht sehr hoch" (Dr. Klug)

Umfassendes Interview mit Dr. Günter Klug zu Thema Depression, erschienen in der Broschüre "WIR SIND ALLE BETROFFENe. DEPRESSION HAT VIELE GESICHTER (2008). Das Interview wurden von Betroffenen geführt und niedergeschrieben, die an dieser Broschüre mitgewirkt haben.

PÖD: Nennen Sie uns bitte die häufigsten Symptome einer Depression.

Klug: Das sind z. B. Schlafstörungen, Morgentief, Gedankenkreisen, anhaltend schlechte Stimmung, Konzentrationsstörungen, begleitet von Merkfähigkeitsproblemen, manchmal innere Unruhe. Bei einer schweren Depression wird jede Bewegung des Körpers schon sehr mühsam und der Antrieb, speziell morgens aus dem Bett zu kommen, ist stark herabgesetzt. Das wären also die klassischen Symptome. Symptome, die oft übersehen werden, sind z. B. Unruhe und Gereiztheit, weil die nicht typisch sind. Sie treten nur in 10 bis 15 % der Fälle auf. Davon Betroffene bekommen kaum Unterstützung, denn, wenn jemand gereizt reagiert, zieht sich das Unterstützungssystem relativ rasch zurück.

Bei der „lavierten“ Depression, versteckt sich die Krankheit hinter einer Maske, das heißt, dass körperliche Beschwerden vordergründig sind. Bei anhaltenden physischen Symptomen sollte man sich also absichern, ob nicht ein depressiver Zustand dahinter steckt. Wenn man also schon mehrmals durchgecheckt wurde und rein organisch nichts Auffälliges vorliegt, ist auch an eine Depression zu denken. Aber auch bei klassischen Symptomen wird die Depression relativ leicht übersehen und nicht selten erst nach 15 bis 20 Jahren diagnostiziert. Umgekehrt sollte man natürlich auch, wenn man eine Depression vermutet, mögliche körperliche Ursachen abklären bzw. ausschließen.

Haben depressive Menschen eine genetische Anlage zur Depression oder erwerben sie diese Krankheit erst im Laufe ihres Lebens?

Genau kann man das nicht trennen, aber das ist auch nicht wichtig. Es gehört jedoch betont, dass Depression keine Erbkrankheit ist. Man erbt lediglich eine Anlage dazu. Das heißt, es gibt Menschen, die unter bestimmten Umständen, wenn es für sie eng wird, eher depressiv reagieren, andere werden wirr oder aggressiv oder reagieren mit körperlichen Symptomen. In den meisten Fällen hat man die Möglichkeit, den Verlauf der Depression zu beeinflussen – wenn man seinen Umgang mit Problemen ändert, wenn man eine zufriedenstellende Lebenssituation erreicht, der Stresslevel nicht überhand nimmt und wenn körperlich keine Beschwerden vorliegen, dann hat man sehr gute Chancen, trotz Veranlagung nicht depressiv zu werden.

Wie unterscheiden sich Depressionen bei Frauen und Männern?

Frauen sind im Vergleich zu Männern zwei- bis dreimal so häufig von Depressionen betroffen. Wenn Frauen an Depressionen leiden, zeigen sie sich eher schwermütig, die männliche Depression äußert sich eher in aggressiv verstimmten Symptomen. Insgesamt sind 70 bis 80 % der Selbstmorde oder Selbstmordversuche auf Depressionen zurückzuführen. Ca. 10 % der schwer depressiven Menschen sterben an Suizid. Männer bringen sich doppelt so häufig um als Frauen. Das macht deutlich, dass Frauen und Männer erziehungsbedingt einen unterschiedlichen Umgang mit Problemen pflegen. Frauen sind besser in der Lage, sich Hilfe zu holen, über Problematiken zu reden, Männer behalten alles für sich, so lange sie können. Depression ist also, verglichen mit anderen Erkrankungen, eine sehr gefährliche Krankheit.

Wann werden bei Depressionen Medikamente eingesetzt und zu welchem Zweck?

Wenn jemand schwer depressiv ist, dann ist er oft nicht erreichbar, das ist auch ein Grund, warum man Medikamente verabreicht, um den Menschen wieder ansprechbar zu machen. Die wirkliche Veränderung kann nach dem schweren Depressionsschub passieren, in der guten Phase, mithilfe einer Psychotherapie. Denn nur dann kann man sich mit seinen Reaktionsmustern, also mit dem, was man gelernt hat, auseinandersetzen und nachhaltig etwas verändern.

Kann man trotz Medikamenteneinnahme wieder in ein tiefes Loch stürzen?

Wenn das Medikament vertragen und es nach Verschreibung eingenommen wird, kann man davon ausgehen, dass es einem nachhaltig besser geht. Trotzdem sollte man nicht ausschließlich Antidepressiva einnehmen, sondern eine Psychotherapie in Erwägung ziehen, damit man wieder ganz gesund wird und eines schönen Tages die Medikamente weglassen kann.

Machen Antidepressiva abhängig?

Nein. Es ist bei jedem Medikament so, dass sich der Körper darauf einstellt, wenn man es länger einnimmt. Antidepressiva müssen mindestens 2 Wochen genommen werden, bis sich die Wirkung einstellt. Der Zeitraum ist viel zu lange für den Aufbau einer Suchtverbindung im Gehirn.

Wann wirkt Psychotherapie?

60 bis 70 % des Effekts einer Psychotherapie liegt im persönlichen Austausch, das heißt, ein Betroffener braucht zuallererst eine/n Therapeuten/in, die/den er sympathisch findet, die Chemie zwischen beiden muss stimmen. Sonst kann sich der Klient nicht öffnen. Selbst wenn es sich um eine/n anerkannte/n Therapeuten/in handelt wird die Therapie erfolglos verlaufen, wenn der/die Betroffene ihn/sie nicht sympathisch findet. In Österreich gibt es viele verschiedene Therapieschulen, wobei vor allem wichtig ist, dass der/die Therapeut/in sein/ihr Handwerkszeug gut kann.

Wirkt Psychotherapie nachhaltiger als dies Antidepressiva tun?

Wenn die Psychotherapie wirkt, wirkt sie langfristig. Phasen, in denen Veränderungen passieren, sind – subjektiv gesehen – für Betroffene nicht immer angenehm, Psychotherapie kann also mitunter anstrengend sein, sie bewirkt auch Veränderungen im Umfeld des Betroffenen. Bei Veränderungen kann kein System statisch bleiben.

Ist es nicht so, dass Psychotherapie nur wirken kann, wenn es auch eine erkennbare Ursache für eine Depression gibt?

Nein. Das wäre eine Aufdecker-Psychotherapie. Nehmen wir als Beispiel die Psychoanalyse: Hier wird auch über die Kindheit assoziiert, und manchmal findet man damit die Ursache und damit kann man etwas verändern? In der Therapie kann man aber auch zukunftsorientiert arbeiten, analysieren, wie man sich im Moment verhält, mit welchem Verhalten man sich in Richtung Depression bewegt und neue Verhaltensstrategien finden. So kann man auch arbeiten, ohne die Ursache der Depression zu kennen, was ohnedies kaum möglich ist.

Aus meiner Sicht ist das Hauptanliegen der Psychotherapie, den Betroffenen aus seinem alten Muster herauszuführen, indem man ihm einen Anreiz zum Perspektivenwechsel gibt. Meine Erfahrung ist, dass sich die Menschen dann ihre Wege selbst finden. Das kann ein Therapeut nicht für seinen Klienten erledigen, denn jeder hat seinen individuellen Weg. Der Prozess birgt anfangs eine Phase der Verunsicherung, denn beim Umlernen werden auch Schaltungen im Gehirn beeinflusst bzw. verändert. All diese Vorgänge im Gehirn kann man heute übrigens schon sehr gut nachweisen.

Da taucht die Frage auf, ob Depressionen durch Stoffwechselstörungen ausgelöst werden können oder ob auch immer Faktoren der Psyche beteiligt sind.

Man kann Depressionen auch chemisch verursachen. Manche Antibiotika machen das. Wenn man schwere Antibiotika absetzt, kann es nachher zu einer depressiven Phase mit erhöhter Suizidrate kommen. Faktum ist: Wir sind von der Grundstruktur her chemische Wesen, im Endeffekt läuft alles im Körper über chemische Prozesse ab. Die Abläufe können aus verschiedenen Gründen gestört sein, z. B. wenn jemand ein permanent unruhiges Verhalten an den Tag legt oder weil eine Veranlagung besteht, wonach der Stoffwechsel nicht exakt funktioniert. Die Abläufe können aber auch durch einen permanenten Schmerzreiz im Körper gestört sein. Das alles kann man natürlich beeinflussen. Der Klassiker ist die Gabe von Medikamenten. Untersuchungen zeigen, dass Psychotherapie genauso eine Wirkung auf unseren Stoffwechsel hat, also die Chemie im Gehirn verändert. Übrigens auch soziale Veränderungen. Es gibt viele Varianten der Einflussnahme.

Geht die Depression immer damit einher, dass man nicht essen will oder kann es auch genau umgekehrt sein, dass man zu viel isst?

Das ist ganz unterschiedlich. Bei einer schweren Depression ist das Nicht-Essen häufiger, weil Betroffene einfach nicht mehr die Kraft haben, zu Tisch zu gehen. Bei einer leichteren oder mittleren Depression kann aber durchaus das Essen noch ein „Sich etwas Gutes tun“ sein. Man nimmt zu, weil man sich ja kaum bewegt und die Körperfunktionen ein bisschen langsamer laufen.

Warum geht es depressiven Menschen am Morgen meist schlechter?

Man geht davon aus, dass die Depression auch eine Rhythmusstörung ist. Wir haben sehr viele innere Rhythmen. Wenn ein solcher Rhythmus gestört ist, geraten wir insgesamt durcheinander. Es kommt zur Tag- und Nachtumkehr, man schläft am Tag und dafür in der Nacht nicht.

Gibt es chronischen Schmerzpatienten, die ursächlich depressiv sind?

Nein. Auf der einen Seite gibt es Depressionen, die chronische Schmerzen verursachen und auf der anderen Seite wurde in Untersuchungen nachgewiesen, dass chronische Schmerzen eine Dauerbelastung darstellen und somit in die Depression führen können. Den Akutschmerz hält man relativ gut aus, auch wenn er sehr stark ist. Aber alles, was über lange Zeit läuft, zermürbt und das macht anfällig. Genauso ist das bei Krisen, die sich über Jahre hinziehen, oder bei beruflicher Überlastung. Alle belastenden Zustände, die über lange Zeit anhalten, machen unsere Speicher leer. Wenn man eine Neigung zur Depression hat, bricht sie dann wahrscheinlich aus.

Wie viele Frauen erleiden nach der Geburt ihres Kindes eine postpartale Depression und was ist die Ursache für diese Depression?

Rund 5 % der Frauen, die ein Kind gebären, erleiden eine postpartale Depression. Depressionen sind Rhythmusstörungen. In Zeiten von Veränderungen im Leben ist man daher sehr anfällig. Bei der Geburt passiert eine massive hormonelle Umstellung, die eine postpartale Depression auslösen kann.

Treten Depressionen im Klimakterium verstärkt auf?

Viele Frauen leiden an dem s. g. prämenstruellen Syndrom, d. h. vor der Regelblutung treten depressive Schwankungen auf. Das hat mit der hormonellen Umstellung zu tun. Auch im Klimakterium kommt es zu einer gravierenden Hormonumstellung, somit ist dies auch eine kritische Zeit für Frauen, die zu Depressionen neigen.

Was halten Sie von alternativen Therapien  wie Behandlung mit Bachblüten, Homöopathie, Geistheilung, Akupunktur?

Für mich sind nicht alle alternativen Therapien gleichwertig. Akupunktur und Homöopathie sind meiner Meinung nach immer zu befürworten. Ich habe schon oft erlebt, dass diese Therapieformen sehr hilfreich waren.

Eignen sich auch Körperarbeit und Tanztherapie zur Behandlung einer Depression?

Bei allen therapeutischen Formen, die sukzessive neu auftauchen, darf eines nicht fehlen, das Lustprinzip. Es muss „Spaß“ machen, gerade in der Depressionsbehandlung. Die Frage, ist: „Was liegt mir?“ Alles, was man als entspannend und wohltuend empfindet, ist gut. Therapie muss aber nicht immer ruhig und entspannend sein. Ich hab eine Klientin, die in depressiven Phasen auf eine Autobahnbrücke geht, um zu schreien. Und das entspannt sie.

Depression und Burn-out: Ist das etwas Ähnliches?

Eines der ersten Symptome bei Burn-out ist die Depression, wobei auch weitere Symptome hinzukommen. Burn-out ist ein Gesellschaftsproblem. Manche Leute haben keinen Job und andere arbeiten wie die Blöden, dazwischen gibt es kaum mehr etwas. Erstere fallen in eine Depression, weil sie keine Arbeit haben, zweitere bekommen ein Burn-out, weil sie zu viel Arbeit haben, und handeln sich damit eine Depression ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Zukunft weniger Depressive geben wird, ist in unserer Gesellschaft nicht sehr hoch.

Was können wir als Betroffene zur Entstigmatisierung beitragen?

Was auf alle Fälle hilft, ist, die eigenen Erfahrungen auf den Tisch zu legen. Wenn ein Betroffener merkt, dass es da jemanden gibt, der ganz normal lebt, der eigentlich zufrieden ist in seinem Leben, obwohl er unter Depressionen gelitten hat oder immer wieder depressiv wird, kann das sehr erleichternd sein. Wichtig ist, dass sich Betroffene gegenseitig Unterstützung geben, indem sie Erfahrungen weitergeben, beispielsweise hinsichtlich Behandlungsmöglichkeiten. Jeder, der Depressionen erlebt hat, besitzt einen Erfahrungsschatz. Wenn man den weitergibt, muss der andere nicht unbedingt auch alle negativen Erfahrungen machen.

Danke für das Gespräch!


BIOGRAFIE:
Dr. Günter Klug
ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut. Im Mai dieses Jahres ist er zum neuen Obmann der GFSG gewählt worden. Dr. Klug ist seit 1997 auch Obmann des Dachverbands der sozialpsychiatrischen Vereine und Gesellschaften Steiermarks und seit 2009 Präsident der Österreichischen Schizophreniegesellschaft. Als profunder Experte für Sozialpsychiatrie ist er häufiger Teilnehmer von Experten- und Planungskreisen und Autor von Fachartikel in diesem Bereich. Innerhalb der GFSG leitet er den Psychosozialen Dienst Graz Ost. Träger des Hans-Georg-Zapotoczky-Preises 2011.

Das Interview ist ertsmalig in der Broschüre "Wir sind alle BETROFFENe. DEPRESSION HAT VIELE GESICHTER" erschienen, bei der das Achterbahn-Team aktiv mitgewirkt hat und die 2008 von FOCUS PATIENT herausgegeben wurde.